Identität

Das Bild vom Selbst?

 

Am 18. November 2018 feierte unser neues Kurzfilmprogramm "Ist it me? Zur Frage nach Identität und zu Bildern vom Selbst" auf dem KFFK - Kurzfilmfestival Köln No. 12 im Filmforum NRW im Museum Ludwig Premiere. Wir baten Frau Dr. Rita Kramp um einen ergänzenden schriftlichen Beitrag, der die Frage nach Identität aus anthropologischer Sicht beleuchtet.

 

Carlotta's Face (Regie: Valentin Riedl und Frédéric Schuld, Deutschland 2018

 

Was bedeutet „Identität“? Oder oft auch besonders betont: „die eigene Identität“? Steht die Identität in Verbindung mit dem Individuum, der eigenen Gestaltung der Person? Vielleicht wird diese Betonung der eigenen individuellen Persönlichkeit, versteckt in der Bezeichnung „Identität“, als Abgrenzung genannt zur bürokratischen Identität, die sich in den Angaben des Personalausweises wiederfindet: Alter, Geschlecht, Wohnort. Heute hat sich auch eine digitalen Identität herausgebildet durch die Verwendung von digitalen Ausweisen, ec-Karten, Profilen in sozialen digitalen Medien. Diese Identität zeichnet sich durch das Risiko aus, missbraucht zu werden, zu verschwinden, sich also von der eigenen Person zu entfernen. Zumindest wird in der Literatur oder auch im Film das Thema „Identitätsraub“ gern dazu genutzt, die Schwachstellen unseres von digitalen Daten abhängigen Lebens aufzuzeigen. Verschwinden diese Daten, verschwindet auch die dazu gehörige Person, der Mensch wird zur Un-Person, ist nicht mehr identifizierbar, ergo: nicht existent.

Diese Angst vor dem Missbrauch persönlicher Daten lässt darauf schließen, die Existenz des Menschen hänge von seiner Identität ab. Oder wenn nicht die Existenz, dann doch die eigene Person bzw. die Wahrnehmung dieser Person durch andere, die Anerkennung als soziales Wesen, als Teil einer Gemeinschaft, zumindest im weitesten Sinne als Mitglied der menschlichen Gesellschaft. Es reicht also ganz und gar nicht aus, mit sich selbst in Übereinstimmung zu sein, sondern die Akzeptanz, die Rückspiegelung in den Augen des Gegenübers, muss zur Bestätigung der eigenen Positionierung unbedingt erfahrbar werden. Identität ist also nicht nur eine Frage der eigenen Individualität, sondern auch ein ständiger Balanceakt mit der sozialen Umwelt. Sie formt sich in einer Wechselwirkung mit anderen Menschen. Googelt man den Begriff Identität, so findet sich schnell das Bild einer Schaukel bzw. Wippe: auf der eine Seite befindet sich die individuelle Person mit ihren ganz eigenen Merkmalen, auf der anderen Seite Menschen ihres Umfelds, die auf diese Merkmale reagieren, sie bestätigen, ablehnen oder auch ganz andere Merkmale einfordern.

Die Frage nach der Identität eines Menschen taucht meist in Übergangs- oder auch Krisensituationen auf. Üblicherweise wird der Mensch in eine Familie geboren, in der ein bestimmter Platz für ihn vorgesehen ist: man kommt als Sohn oder Tochter zur Welt, wird als erstes Kind geboren oder als letztes in einer Geschwisterreihe, erfüllt die Erwartungen der Eltern oder zeigt überraschende Wesenszüge, die bisher in der Familie nicht aufgetreten sind etc. Sofern das neue Familienmitglied diese Position als passend empfindet, wird es dort Platz nehmen und von dieser Position aus sein Leben auch im weiteren gesellschaftlichen Umfeld gestalten. Die Person lebt im Einklang mit ihren Gefühlen und Bedürfnissen, empfindet die äußeren Erwartungen als angemessen, erfährt überwiegend positive Rückmeldungen und ist mit der Gestaltung des eigenen Lebens zufrieden. Im Laufe der Persönlichkeitsentwicklung werden sich Fragen auftun, z.B. warum bin ich gerade in diesem Körper geboren?, die auf dem Weg zum Erwachsenenleben in den Hintergrund treten.

Nun taucht die nächste Hürde im Umgang mit der Identität auf. Der Mensch trifft auf Personen außerhalb des familiären Kontextes, auf Personen also, die nicht naturgegeben vorhanden sind, sondern mit denen man sich aus anderen Gründen verbunden fühlt. Man fühlt ein freundschaftliches Interesse, man empfindet Liebe zu einem anderen Menschen, eventuell ist man aber auch irritiert durch ein neues Verhalten, ein spezielles Auftreten, das bisher unbekannt war. Und diese Begegnungen stellen vielleicht nicht nur die eigene Identität in Frage, sondern das Erkennen und die Auseinandersetzung mit einer anderen bisher fremden Identität wird notwendig, möchte man mit diesem Menschen weiterhin verbunden bleiben. Dieser wechselseitige Prozess führt dazu, dass die eigenen Identität nicht zu einem stabilen Fixpunkt wird, sondern immer wieder hinterfragt und damit auch in Zweifel gezogen wird. Am Ende der Lebensgeschichte steht idealerweise eine Person, die sowohl mit sich als auch mit ihrer Umgebung in Einklang lebt.

Zeigen sich allerdings Irritationen, ergeben sich Diskrepanzen zwischen den Erwartungen und Zuschreibungen der Person und ihrer Umwelt, so muss neu verhandelt werden. Der Prozess einer selbstverständlichen sozialen Einordnung im Laufe der Identitätsfindung wird holprig, die Positionierung muss gesucht werden, eventuell probeweise, tastend oder auch gegen jede Zuschreibung aus dem Umfeld.

Eine Grundlage der Identität sind biologische Fakten wie Geschlecht, Alter und familiäre Abstammung. Heute treten zusätzlich  sogenannte identitätsstiftende Verhaltensangebote auf, die eine stabile dauerhaft Identitätsfindung erschweren. Diese Angebote sind mehr oder weniger frei wählbar, also flexibel gestaltbar, wie beispielsweise das Essverhalten. Während die Ernährung eine biologische Notwendigkeit darstellt, so ist die Art und Weise der Nahrungsaufnahme sozial bedingt. Was in welcher Form wann verzehrt wird, wird in unserer Gesellschaft oft von bestimmten Gruppen definiert, so dass eine biologische Notwendigkeit sehr leicht in eine ideologische Auseinandersetzung münden kann. Jeder kennt heftige Streitgespräche zwischen Veganern, Vegetariern und Fleischverzehrern, die weit über Ernährungsfragen hinausgehen und zu persönlichen Moralvorstellungen und Wertungen von Verhalten anderer Menschen führen.

Oder die Frage nach dem biologischen Geschlecht: zunächst erscheint diese Frage völlig obsolet, der Mensch wird mit männlichem oder weiblichen Geschlecht geboren, eventuell ist die Zuschreibung nicht eindeutig, dann gibt es ein drittes Geschlecht, das nach neuesten Verfahrensgesetzen auch aktenkundig werden kann. Nun besteht die Möglichkeit einer Geschlechtsumwandlung, die mannigfaltige Auswirkungen haben kann. Hat man dann eine eindeutige Zuordnung erlangt oder ergibt sich eine weitere Kategorie? Und ist die Person nun im Einklang mit dieser Zuordnung? Rein theoretisch kann eine Geschlechtsumwandlung wiederholt oder vielleicht rückgängig gemacht werden bzw. könnte auch eine Person mit eindeutiger Geschlechtseinordnung eine Umwandlung durchführen. Sollte einem Mann verwehrt werden, als Frau zu leben, nur weil die biologische Ausstattung eindeutig ist? Besteht nicht für alle Menschen gleichermaßen das Recht, psychisch und physisch im Einklang zu leben? Diese Frage wird im Hinblick auf Geschlecht und sexuelle Orientierung diskutiert, aber wie könnte eine Argumentation aussehen im Hinblick auf andere biologische Ausstattungen? Müsste man da nicht auch dem Individuum eine Wahlmöglichkeit zugestehen? Oder ist es auch dem zeitgenössischen Menschen zumutbar, bestimmte Gegebenheiten schlichtweg hinzunehmen?

Nicht nur in der digitalen Welt gibt es die Möglichkeit, in eine andere Rolle zu schlüpfen, zumindest über einen gewissen Zeitraum das Leben einer anderen Person zu führen, seine eigene Identität frei zu gestalten. Dieses Phänomen zeigt sich in der Beliebtheit von Rollenspielen, die das Ausleben ganz neuer Seiten in einer Person erlauben. In der digitalen Welt gibt es dazu fast unbegrenzte Möglichkeiten. Der Begriff „Computer-Spiele“ trifft die Möglichkeiten dieser Welt nur ungenügend und wird diesem Phänomen nicht gerecht. Auch ein Ausflug in die Beschreibung dieser Welt als „Fantasy“ führt nicht zum Ziel, da diese Welt eine andere Realität erschafft. In den digitalen Medien kann man sein Profil bearbeiten, ein neues Bild von sich gestalten, sich ein Leben neben dem alltäglichen Leben erschaffen und damit in Erscheinung treten. Ist diese „erfundene“ Figur real? Oder eben schlichtweg neu „gefunden“ von einer Person, die der Autor der eigenen Individualität wird?

Diese Fragen und Auseinandersetzungen führen im besten Fall zu einer politischen Diskussion und daraus folgenden demokratischen Handlungsentscheidungen, die die Lebensentwürfe ganz unterschiedlicher Personen berücksichtigen. Unter negativen Bedingungen kann diese Diskussion jedoch auch zu Ausgrenzungen und fragwürdigen Entscheidungen führen. In unserer Gesellschaft finden wir dieses Phänomen u.a. in der Bildung der sogenannten Identitären Bewegung, die Menschen zusammenschließt aufgrund spezieller Abstammungskriterien mit dem deutlich formulierten Ziel, alle anderen Personen von der gesellschaftlichen Teilhabe auszuschließen.

Es zeigt sich also sehr deutlich, dass ein derart persönlicher Prozess wie die Suche nach der eigenen Identität absolut kein individuelles Erleben ist, sondern in größerem Rahmen gesamtgesellschaftlich betrachtet werden muss. Wie Seyla Benhabib bereits vor 25 Jahre ausführlich darlegt, bildet sich die „Identität des Ichs“ in einem Zusammenhang stiftenden narrativen Prozess, in dem das Ich, also die handelnde Person, sowohl Verfasser als auch Protagonist ist, in dem die eigenen Handlungen und Äußerungen mit den Erwartungshaltungen der Anderen zusammengeführt werden. Die politische Philosophin Rahel Jaeggi weist im Zusammenhang mit dem Begriff „Emanzipation“ aktuell auf etwas hin, was man auch auf den Identitätsprozess anwenden kann: Die Einsicht, dass man individuelle Erfahrungen nicht außerhalb eines sozialen Kontextes macht. Individuelle und kollektive Erfahrung sind stets verschränkt, auch individuelle und kollektive Befreiungsprozesse, die in der Suche nach Authentizität und Selbstverwirklichung gründen, muss man stets zusammen denken.

Ganz aktuell hat sich zu diesem Thema der in New York lehrende britisch-ghanaische Philosoph Kwame Anthony Appiah geäußert, der besonders einen Identitätsbegriff aus der linken politischen Position kritisiert. Die linke Position sieht im Kern jeder Gruppen-Identität eine Wesensähnlichkeit – z.B. „Arbeiter-Identität“ oder die „Schwule Community“ – die eine Gruppenbindung herstellten, was Appiah grundsätzlich als Fehleinschätzung ablehnt, da es diese Wesensähnlichkeit nicht gibt, sondern lediglich Zusammenschlüsse von Menschen mit gemeinsamen Interessen. Ganz im Gegenteil dazu sieht Appiah in diesen Identitätszuschreibungen eine Gefahr, die die menschliche Solidarität schwächt zugunsten einer äußerst fragwürdigen Gruppensolidarität und in gesellschaftliche Konflikte führen kann. In abgeschwächter Form finden wir diese Konflikte heute bereits in unserer eigenen Gesellschaft vor. Der Vorwurf, „die“ Politiker beschäftigten sich nur noch mit Problemen von Minderheiten wie z.B. das Thema Homo-Ehe oder der Zuordnung öffentlicher Unisex-Toiletten taucht mittlerweile in öffentlichen Diskussionen auf. Wogegen Probleme, die die Mehrheit betreffen wie Fragen zu bezahlbarem Wohnraum oder verfügbarer Kitaplätze nicht deutlich genug von der Politik wahrgenommen würden. Dies führt zu Unverständnis und Unzufriedenheit in der Bevölkerung, die jede Form der Solidarisierung auf gesamtgesellschaftlicher Ebene unterwandern.

Den Mensch als einzigartige individuelle Person zu betrachten, als grundsätzlich gleichwertiger Träger von Rechten und Pflichten, dem die Möglichkeit gegeben werden muss, sich einen Platz in der Gesellschaft nach eigenem Empfinden einzurichten, geht durch die identitätsstiftenden Gruppenbildungen verloren. Vielleicht ist es an der Zeit, die Tradition des Universalismus wieder in den Vordergrund zu stellen und eine Gesellschaftsform anzustreben, in der jeder Mensch seinen bzw. ihren Platz finden kann. Dazu wird allerdings eine Bereitschaft zur Kommunikation mit anderen Mitgliedern der Gesellschaft unabdingbar, mit denen man sich letztendlich einigen muss. Oder wie Hannah Arendt es formuliert: die erweiterte Denkungsart, die ihre individuelle Beschränktheit zu überwinden weiß, führt letztendlich zu einer universalistischen Ethik, die zum Ziel hat, jedem Mensch gerecht zu werden.

(Text: Dr. Rita Kramp, November 2018)